Migration und Integration
Wer bestimmt eigentlich, wer ich bin? Vom Ringen darum, die eigene Identität auszubuchstabieren, haben Azize Tank, Ferda Ataman und Ozan Zakariya Keskinkılıç bei unserem Forum „Von ‚Gastarbeiter*innen‘ zu Muslim*innen?“ berichtet. Ist es allein der Name, das Aussehen, die Religion oder die Muttersprache, die einen Menschen definiert? Und wer hat die Deutungshoheit über diese Definition: jede*r für sich selbst – oder andere?
Auf diese Überlegungen kam das Gespräch auf dem Podium am 23. September aus Anlass des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens mit der Türkei immer wieder zurück. Ausgangspunkt war die Frage, wie das Abkommen von 1961 und die Zuwanderung aus der Türkei bis heute Menschen prägen, bei denen die Zuwanderungsgeschichte wichtiger Teil ihrer Identität und Familiengeschichte ist.
Azize Tank, die als „Gastarbeiterin“ der ersten Generation nach Deutschland kam und von 2013 bis 2017 für die Linkspartei im Bundestag saß, berichtete darüber, wie sie als junge Frau allein von Istanbul in die Oberpfalz zog und sich gegen die dortigen Arbeits- und Lebensbedingungen auflehnte. Heute bezeichnet sie sich als „Integrationsverweigerin“, da sie sich nicht auf die Rolle der „gut Integrierten“ festlegen lassen wolle. Schließlich sei Integration keine Bringschuld von Zugewanderten, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Der Politikwissenschaftler, Autor und Lyriker Ozan Zakariya Keskinkılıç vermisst einen genaueren Blick auf die Diversität türkeistämmiger Menschen. Nicht alle sähen sich selbst als Türk*innen, sondern einige beispielsweise als Kurd*innen oder als Angehörige anderer, zum Beispiel arabischsprachiger Minderheiten.
„Erst waren wir ‚Gastarbeiter‘, dann Ausländer, dann Türken, dann Muslime.“ So beschrieb die Journalistin Ferda Ataman eine Verschiebung von Zuschreibungen über die vergangenen Jahrzehnte, und sie erinnerte: „Übrigens sind wir ohne ‚Migrationshintergrund‘ geboren worden. Der wurde uns erst vor 15 Jahren ‚geschenkt‘.“ In dieser Zeit habe man begonnen, den „Migrationshintergrund“ als statistische Größe zu erfassen. Aus ihrer Sicht sei diese Zahl aber diskriminierend, da sie nur für einige Gruppen von Zugewanderten erhoben werde und „Premiumausländer“ wie etwa Däninnen oder Franzosen nicht mitgemeint seien.
Keskinkılıç konstatierte eine „Islamisierung der Migrationsdebatte“ und warnte davor, Menschen vorschnell zu kategorisieren: Anders, als manche Statistik vorgebe, sei selbstverständlich nicht jeder türkeistämmige Mensch Muslimin oder Muslim. Schließlich gebe es auch Christen, Jüdinnen, Nichtreligiöse und andere: „Wir wissen auch schlichtweg nicht, wie viele Muslime in Deutschland leben. Wir wissen es erst dann, wenn wir jeden Einzelnen gefragt haben.“
Die Veranstaltung wurde von der Evangelischen Akademie zu Berlin, der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), dem Berliner Forum der Religionen und der Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion in Berlin-Kreuzberg organisiert.
(Text von Sarah Albrecht, Evangelische Akademie zu Berlin)
Mit Religionspolitik in der Zuwanderungsgesellschaft hatten wir uns schon im August 2019 beschäftigt.