Damit sich Gott aller erbarme

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Damit sich Gott aller erbarme – damit endet unser Predigttext. Welch ein hoffnungsvoller Ausblick angesichts erbarmungsloser Konflikte und erbarmungswürdiger Formen des Zusammenlebens!

Wir begehen den Israelsonntag in zeitlicher Nähe zum jüdischen Feiertag 9. Av, den die jüdischen Gemeinden als Trauer- und Fastentag in Erinnerung an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier 586 v. Christus und durch die Römer 70 n. Christus gestalten. Sie erinnern auch an weitere Katastrophen der jüdischen Geschichte wie die Pogrome während der Kreuzzüge, die Vertreibung von der iberischen Halbinsel, den Holocaust während der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie singen in ihren Gottesdiensten die Klagelieder Jeremias über Zerstörung und Exil und fragen Gott nach seinem hoffnungsvollen Eingreifen, das er ihnen als seinem erwählten Volk immer wieder verheißen hat.

In unserem Predigttext sind wir, die in den Stamm Israel Eingepfropften aus den Völkern, die Adressaten und Adressatinnen von Paulus. Uns offenbart er ein Geheimnis, damit wir nicht in Unkenntnis bleiben.

Er erinnert uns mit dem Schriftzeugnis aus dem Jesajabuch, dass aus Zion der Retter kommen und die Gottlosigkeit aus Jakob wegschaffen wird. Israel bleibt der Liebling Gottes aufgrund der Erwählung, Gottes Bund und seiner Gnadengaben.

In den letzten Versen geht es jeweils viermal um das Verhältnis von Ungehorsam und Gottes Erbarmen. Je zweimal ist von unserem Ungehorsam und dem Erbarmen Gottes gegenüber uns aus den Völkern die Rede, je einmal vom Ungehorsam und Erbarmen Gottes in Bezug auf Israel. Am Ende steht: „Gott hat ja alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme“.

Wie können wir über diese Hoffnungsbotschaft Gottes, die unseren Ungehorsam nicht verschweigt, am Israelsonntag 2020 in einer christlichen Gemeinde in Deutschland predigen?

Zum einen, dass wir mit Trauer auf die Zeugnisse der Zerstörung jüdischen Lebens als Mahnmale für unseren Ungehorsam gegenüber Gott und seinem geliebten Volk in unserer Mitte hinsehen.

Zum anderen, dass wir die Zeugnisse der Diskriminierung des Judentums nicht aus Gründen des Denkmalschutzes in unseren Kirchen und an anderen Orten unverändert stehen lassen, sondern sie umgestalten. Ein Beispiel ist für mich die meterhohe Gegenüberstellung der blinden Synagoge und der triumphierenden Kirche auf einem frisch renovierten Mosaik in der Herz-Jesu-Kirche im Prenzlauer Berg. Wie könnte es durch ästhetisch angemessene Lösungen so kommentiert werden, dass es unsere Umkehr aus unserem tödlichen Ungehorsam des Antisemitismus sichtbar macht?

Zum dritten, wie können wir gemeinsam als Menschen aus den Völkern und aus dem geliebten Volk Israel unsere Hoffnung auf Gottes Erbarmen trotz unseres Ungehorsams bezeugen? Eine im interreligiösen Dialog in Berlin engagierte Muslima hat nach dem Anschlag in Halle Menschen aus verschiedenen Religionen zusammengerufen, um gemeinsam zu überlegen, was wir jenseits von Mahnwachen tun können. Es ist daraus das Projekt „Belastbare Brücken bauen“ entstanden. Wir haben inzwischen ein rotes Sofa, auf dem wir bei Wochenmärkten und bei anderen geeigneten Orten im öffentlichen Raum mit der beweglichen Mitte der Gesellschaft ins Gespräch kommen wollen. Hoffentlich wird dort eine Vorahnung davon spürbar, wie ein Leben aussehen kann, das von Gottes Botschaft für diesen Israelsonntag geprägt ist: „damit sich Gott aller erbarme.“

Pfarrerin Dr. Gerdi Nützel, Evangelische Studierendengemeinde Berlin, Notfonds-Arbeit für internationale Studierende