Stellungnahme zum Amoklauf in Hamburg

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Stellungnahme unseres Partners, des Arbeitskreises Religion und Psychiatrie, zum Amoklauf und der Berichterstattung

Liebe Mitglieder des AK Religion & Psychiatrie und Interessenten,

das Hamburger Attentat auf das Gebetshaus der Zeugen Jehovas vor einer Woche hat uns alle betroffen gemacht. Ein 35jähriges ehemaliges Mitglied der Gemeinde drang am vergangenen Donnerstagabend am Ende einer Versammlung in das Gebäude der Religionsgemeinschaft ein und tötete wahllos sieben Gläubige, bevor er sich selbst erschoss. Dank des schnellen Eingreifens der Polizei überlebten mehrere Dutzend Anwesende den Amoklauf nur leicht verletzt. Nach den bisherigen Erkenntnissen über den Hintergrund der Tat ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Täter seit mehreren Jahren an einer sich zuspitzenden schweren psychischen Erkrankung litt. 2021 hatte er mit offenkundig missionarischem Eifer ein Buch über christlich-religiöse Themen verfasst und sich zugleich von den Zeugen Jehovas losgesagt. Die Ausführungen in seiner Publikation legen wahnhafte Vorstellungen nahe, die explizit aggressive Handlungsweisen thematisieren. Nach vorliegenden Berichten wurde ihm von mehreren Seiten, von Verwandten wie auch Mitgliedern seiner Ex-Gemeinde eine ärztlich-therapeutische Behandlung  dringend angeraten, die er jedoch nicht realisierte. Der Polizei ging ein anonymer Brief zu mit Hinweis auf Besorgnisse wegen seiner psychische Instabilität und seiner neu entwickelten Begeisterung für Waffen; dies führte jedoch nur zu einer Routineüberprüfung ohne Konsequenzen.

  • Aus psychiatrischer Sicht ist von der Tat des psychisch verstörten Täters, eines psychisch kranken Menschen auszugehen, der dringlich einer Behandlung bedurft hätte. Jeder Psychiater weiß: ein derartiger schrecklicher Amoklauf hätte aber ebenso in  einer Einrichtung christlicher Großkirchen, einer Moschee, einer Synagoge oder einer sonstigen Glaubensgemeinschaft oder sonstwo stattfinden können.
  • Aus psychiatrischer Sicht findet sich hier auch das lange  bekannte Dilemma besorgter Angehöriger psychisch Kranker wieder, die therapeutische Kontakte des Betroffenen für dringend halten, aber keine professionellen Ansprechstellen finden, die sensibel mit der Situation insbesondere bei Behandlungsunwilligkeit umzugehen wissen. Hier gibt es Handlungsbedarf.
    Der Umgang mit psychisch Erkrankten, die sich selber nicht als krank erleben und deswegen auch keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, stellt besonders für Angehörige und auch für die Gesellschaft eine ethische Herausforderung dar. Hier ist die Freiheit des Einzelnen gegen das Schutzbedürfnis der Gemeinschaft gegeneinander abzuwägen. Die Schaffung niedrigschwelliger psychiatrischer Hilfsangebote und der Abbau der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen kann die Bereitschaft und Möglichkeit, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, erhöhen.

 

  • Kritikwürdig ist aus Sicht der Unterzeichner aus dem Arbeitskreises „Psychiatrie und Religion“ zudem die klischeehafte und stigmatisierende Berichterstattung über die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Allein schon die oft verwendete Begrifflichkeit „Sekte“ fällt zurück hinter die Empfehlungen der  Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages von 1998, wonach der Begriff „Sekte“ aufgrund seiner “negativen Konnotation” für alle religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften nicht mehr zu verwenden sei. Der Abschlussbericht der Enquete Kommission kommt zu einem  nüchternen Ergebnis: Von den sogenannten Sekten geht keine Gefahr für Staat und Gesellschaft aus.  Dass die Zeugen Jehovas wie Menschen anderer Religionsgemeinschaften zu den Verfolgten und Ermordeten des Naziregimes gehörten, da sie sich dem Naziterror (wie auch dem stalinistischen Terror) widersetzten, ist immer noch viel zu wenig handlungsleitend
  • Religionsgemeinschaften sind oft in der Lage Menschen in Krisensituationen zu unterstützen und zu stärken. Es ist hilfreich, in einer leistungs- und erfolgsorientierten Gesellschaft Räume der Begegnung und des Zusammenseins vorzuhalten, wo sich Menschen in Belastungs- und Krisensituationen stabilisieren können.
    Dabei ist von großer Bedeutung, dass Seelsorger*innen und andere Verantwortliche in den Kirchen, Glaubensgemeinschaften etc. wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie bei den Hilfesuchenden Hinweise auf das Vorhandensein schwerwiegender psychischer Probleme erhalten. Eine bessere und niedrigschwellige Vernetzung konfessioneller Hilfeeinrichtungen mit  professionellen psychiatrischen Hilfsangeboten ist erforderlich.
    Dies zu fördern ist auch eine der Zielsetzungen unseres „AK Religion & Psychiatrie“.

Berlin, 17.03.2023

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Michael Bäumer
Prof. Dr. Christine Funk
Dr. Norbert Hümbs
Dr. Norbert Mönter

Kontakt:  dr.moenter@psychiatrie-in-berlin.de

Stellungnahme als PDF.

 


Vergleiche dazu auch die Stellungnahme des Interreligiösen Friedensnetzwerks Bonn und Region zum Anschlag auf die Versammlung der Zeugen Jehovas in Hamburg.